Ayurveda

Philosophie und Geschichte
Dhanvantari

Die ayurvedische Philosophie basiert auf einer ganzheitlichen Denkweise und ist um die Förderung des Lebens an sich bemüht. Sie betrachtet den Menschen als ein Ganzes und als untrennbaren Bestandteil des Universums. Das Wohlergehen eines Individuums ist nach ayurvedischer Auffassung mit dem Wohlergehen der gesamten Gesellschaft, dem Lebensraum und dem Universum verknüpft. Das menschliche Leben wird als eine Einheit von Körper, Geist und Seele betrachtet. Diese drei Bestandteile stützen sich gegenseitig und bilden zusammen die Basis des Lebens.

Seele – Atma – Geist

Die Seele Atma ist der spirituelle Kern von allem, was existiert. Ohne sie können Geist und Körper nicht existieren. Die Seele ist eigenschaftslos und doch allwissend und allgegenwärtig, sie ist in ihrer Essenz Sat-Cit-Ananda – Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit. Aus ayurvedischer Sicht ist die Seele frei von jeglicher Pathogenität, d.h. sie ist im Gegensatz zu Geist und Körper immer frei von Störungen. Sie ist das Prinzip, das den Wesen Leben und Bewusstheit schenkt. Der Geist Manas ist das Medium aller Denkprozesse, emotionalen Regungen, gespeicherten Informationen und Eindrücke, Neigungen und Abneigungen, des Wach-, Traum- und Tiefschlafbewusstseins sowie aller unterbewussten Inhalte und Prozesse.

In der westlichen Denkweise wird der Begriff „Geist“ häufig als Synonym für Seele verwendet, die östlichen Philosophien grenzen diese zwei Prinzipien jedoch klar voneinander ab. Andere uns geläufige Begriffe für den Geist sind z.B. “Psyche” oder “Verstand”. Ziel im Ayurveda ist die direkte Erfahrung unserer wahren Seelennatur, wodurch die Dinge frei von Subjektivität und fälschlicher Identifikation (mit Körper, Geist inkl. Emotionen) wahrgenommen werden können. Der grobstoffliche Körper Sarira ist die äußere Form, in dem sich unsere Seele manifestieren kann.

Gemäß Ayurveda liegt die Ursache für jegliches Leid in der Anhaftung bzw. der Identifikation mit dem Körper, dem Geist und den Sinnesorganen. Anhaftende Begierden und Taten führen zu einem sich unendlich wiederholenden Kreislauf von Wiedergeburten, wo sich die Seele immer wieder mit Geist und Körper verbindet. Wer diese Anhaftung überwinden kann – und dies ist die grosse Aufgabe in unserem Leben –, entzieht dem Leid jegliche Basis. Die Seele kann befreit und der Zyklus der Wiedergeburten beendet werden.

Das Leben ist ein sensibles und komplexes Phänomen, das ständig von äußeren und inneren Faktoren beeinflusst wird. Diese vielfältigen Faktoren und ihre kausale Verkettung werden im Ayurveda detailliert beschrieben, um die Erhaltung und Förderung von Gesundheit sowie die Behandlung und Beseitigung von Krankheit zu ermöglichen.

Geschichte

Theorien über den historischen Ursprung von Ayurveda orientieren sich an den ältesten schriftlichen Aufzeichnungen des indischen Wissens, den Veden. Es heißt, dass dieses Wissen vom Schöpfer des Welltalls Brahman selbst stammt und von sogenannten Rsis (Sehern der Weisheit) jahrhundertelang durch mündliche Überlieferung erhalten blieb. Im Laufe der Zeit wurde die in den Veden beschriebene Medizin um Beobachtungen und Erfahrungen früherer Denker und Forscher erweitert, die auf wissenschaftlichem Denken beruhten. Somit kann Ayurveda als ein Gemeinschaftswerk einer unermesslichen Zahl erfahrener und authentischer Ärzte, Heiler und Philosophen angesehen werden. Die bekanntesten Schriftensammlungen wurden von den Gelehrten Caraka, Susruta und Vagbhata verfasst, deren Werke heute noch zur Verfügung stehen:

Caraka Samhita (entstanden etwa im 1. Jh. v. Chr.)

Susruta Samhita (ca. 1. Jh. nach Chr.)

Astanga Hrdaya Samhita des Vagbhata (etwa 7. Jh. nach Chr.)

Obwohl die Buddhisten (in Indien von 600 v. Chr. bis 1000 n. Chr.) die vedischen Schriften nicht akzeptierten, übernahmen sie die ayurvedische Medizin. Das zeigt, dass Ayurveda schon zu jener Zeit nicht mit einem unumstößlichen Dogma verbunden war. Nach ihrer Vertreibung aus Indien trugen die Buddhisten zur Verbreitung des Ayurveda bei, z.B. nach China, Tibet und Sri Lanka, was erklärt, wieso die Heilkunden jener Länder viele Ähnlichkeiten mit dem Ayurveda aufweisen. Mit den türkischen Eroberern (1100 bis 1600 n. Chr.) machte Ayurveda einen Sprung nach vorne, es folgte eine Annäherung an die verschiedenen Strömungen der traditionellen indischen Medizinsysteme. Mit den englischen Kolonialherren kam Ayurveda zu einem Stillstand, da die Engländer Indien mit eiserner Faust regierten und die ayurvedischen Institutionen verboten. Ayurveda überlebte nur dank der Familientraditionen. Heute hat die Naturheilkunde ihren Platz in der modernen Gesellschaft zurückerobert und gehört zum offiziellen Medizinsystem in Indien.

Traditionelles Medizinsystem

Ayurveda ist ein traditionelles Medizinsystem, das aus Indien stammt. Es schöpft seine Kraft aus den vedischen Wissenschaften (Veda), welche der Menschheit dank einer getreuen mündlichen Überlieferungstradition seit mindestens 5000 Jahren ein differenziertes wissenschaftliches System zur Kenntnis der verschiedenen Aspekte und Dimensionen des Kosmos vermittelt haben.Ayurveda verfügt über eine umfangreiche traditionelle Literatur, die sich im Lauf der Jahrhunderte entwickelt hat. Ein grosser Teil davon ist bis heute erhalten geblieben. Die ersten grossen medizinischen Abhandlungen, die noch heute als wissenschaftliche Referenz für Ayurveda allgemein anerkannt sind (Charaka Samhita, Sushruta Samhita, Ashtanga Hridayam…), wurden vermutlich ab 500 v. Chr. in Sanskrit verfasst. Diese Werke sind die Grundlagen für das Studium der Ayurveda-Medizin in Indien. In den letzten Jahrzehnten wurden sie zuerst auf Englisch übersetzt, dann nach und nach auch in mehrere andere Sprachen.Der Name Ayurveda ist ein Zusammenzug von Ayus = Leben und Veda = Erkenntnis. Ayurveda beschreibt den Menschen als eine unteilbare Einheit von Körper, Seele und Geist. Er ist denselben Gesetzen unterstellt wie seine Umwelt und der ganze Kosmos, dessen Bestandteil er ist. Gesundheit wird hier definiert als physisches und psychisches Gleichgewicht des Menschen in Harmonie mit seiner sozialen und natürlichen Umgebung. Als Medizinsystem vermittelt Ayurveda dem Menschen einerseits die Kenntnis seiner selbst, die für die Erhaltung seiner Gesundheit unentbehrlich ist, und andererseits eine differenzierte und vollständige Medizinkunst, die es ermöglicht, Störungen des Gleichgewichts im Organismus zu beheben und so die Gesundheit wieder herzustellen, oder zumindest die Entwicklung eines Krankheitsprozesses zu stoppen oder umzukehren. Wo dies nicht möglich ist, hat Ayurveda palliative Mittel zur Erhaltung oder sogar zur Verbesserung der Lebensqualität zu bieten.

Entwicklung in Indien

Gandhi, der Befreier Indiens setzt sich für die Etablilerung der Indischen Medizin an den Universitäten ein.
Zu gewissen Zeiten, während der Invasionen und der Kolonisation, die Indien im Laufe der Geschichte durchgemacht hat, erfuhr Ayurveda zwar Konkurrenz oder wurde sogar schwer unterdrückt, doch seine Substanz ging nie verloren. Die Kunst des Ayurveda wurde weniger ausgeübt, doch dank der Qualität der Referenzwerke und der mündlichen Überlieferung blieb ihre lebendige Essenz erhalten. Ab Anfang des 20. Jahrhunderts, einhergehend mit der Unabhängigkeitsbewegung, forderten einflussreiche Politiker und Weise in Indien die Anerkennung von Ayurveda als vollständiges Medizinsystem neben der westlichen Schulmedizin, die dort seit dem britischen Regime fest verankert war.
Seit der Unabhängigkeit Indiens (1947) anerkennt die indische Regierung Ayurveda als offizielles Medizinsystem. Laut ihrer Einschätzung nehmen 70% der Bevölkerung Indiens – das heisst 1/6 der Weltbevölkerung – Ayurveda in Anspruch. Die Fakultäten für Ayurveda-Medizin verleihen den BAMS (Bachelor of Ayurvedic Medicine and Surgery) nach zwei Jahren Vorstudium der Naturwissenschaften (ausseruniversitär) und fünfeinhalb Jahren Universitätsausbildung in Ayurveda und in den Grundlagen der modernen westlichen Medizin. Dieser Studiengang kann durch einen Master’s Degree und danach durch einen PhD ergänzt werden. Diese Zusatzausbildungen dauern drei, respektive zwei Jahre, mit Schwerpunkt auf Forschung und Lehrtätigkeit.In mehreren anderen Ländern, wie in Sri Lanka, Nepal, Indonesien und Mauritius, ist Ayurveda als offizielles Medizinsystem anerkannt.

Entwicklung im Westen

Nach einer Pionierphase in den Jahren 1980 bis 2000, während der Ayurveda durch Yogis wie Maharishi Mahesh Yogi und Sri Sri Ravi Shankar in den Westen gebracht worden war, wurde diese Disziplin seit den 90er Jahren vor allem im Wellness-Bereich bekannt, wo sie seit den 90er Jahren durch die Sektoren Tourismus und SPA gefördert wurde. Vor dem Jahr 2000 wurde Ayurveda-Medizin in Europa nur durch vereinzelte indische Ärzte unterrichtet. Seit Beginn des neuen Jahrtausends gibt es jedoch mehr Ayurveda-Ärzte, die ihr Wissen in verschiedenen Berufsbildungsinstitutionen in Europa und den USA weitervermitteln. Die Ayurveda-Medizin als vollständiges System gewinnt dank ihrer klinischen Resultate – nicht nur in präventiver, sondern auch in kurativer Medizin – , dank ihrer Umweltfreundlichkeit und ihrem erzieherischen Potential mehr und mehr an Achtung.Ebenfalls seit Anfang dieses Jahrtausends haben viele Ayurveda-Institute (Therapiezentren und Schulen) auf der ganzen Welt begonnen, sich in Berufsverbänden zusammenzuschliessen, um Ayurveda der Öffentlichkeit und den lokalen und regionalen Behörden gegenüber zu vertreten. Die indische Regierung hat den Dialog mit dieser neuen internationalen Ayurveda-Gemeinschaft aufgenommen und beginnt, deren Bestrebungen zu unterstützen. Seit 2009 treffen sich Vertreter dieser Gemeinschaft regelmässig mit den indischen Ayurveda-Vertretern und mit der indischen Regierung. In Zusammenarbeit mit dem Departement AYUSH (Departement für die traditionellen indischen Medizinsysteme) des indischen Gesundheitsministeriums widmen sich internationale Arbeitsgruppen den umfangreichen Dossiers der Ausbildung (Erstellung des Curriculums für die medizinischen und paramedizinischen Ausbildungen), der Förderung, der klinischen Praxis und der wissenschaftlichen Forschung, der Qualitätssicherung in der pharmazeutischen Produktion, der Gesetzgebung und des internationalen Wirtschaftsrechts.

Heute befindet sich die Bewegung im medizinischen und therapeutischen Bereich auf internationaler Ebene in einem Institutionalisierungsprozess im Rahmen der Entwicklung der CAM (Complementary and Alternative Medicine).
Meilensteine auf dem Weg der Entwicklung von Ayurveda auf internationaler Ebene:

Veröffentlichung der wichtigsten modernen Referenzwerke in Ayurveda:
Prof. Dr. Shive Narain Gupta, Elmar Stapelfeldt:
Praxis Ayurvedamedizin,
Haug Verlag, 2009

Dr. med. Ernst Schrott, Dr. med. Wolfgang Schachinger:
Handbuch Ayurveda, Grundlagen und Anwendungen
Haug Verlag, 2005 und neu im Trias Verlag, 2012

Im Jahr 2010 hat die WHO Richtlinien für die Berufsausbildungen in Ayurveda veröffentlicht.
Seit 2011 ist die erste der Ayurveda-Forschung gewidmete Datenbank online frei zugänglich
(www.dharaonline.org).

Entwicklung in der Schweiz

Die Schweiz bietet den exklusiven Vorteil einer für die Entwicklung der Komplementärmedizin – und somit für den Ayurveda – förderlichen Gesetzgebung und Reglementierung: In der Bundesverfassung ist seit der Volksabstimmung vom 17. Mai 2009 festgeschrieben, dass Bund und Kantone im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Komplementärmedizin berücksichtigen müssen (Art.118a BV). Die konkrete Umsetzung ist danach Aufgabe des Parlaments sowie der Kantone.Der VSAMT, welchem Mitglieder aus der ganzen Schweiz angehören, ist einer der aktivsten Ayurveda-Berufsverbände in Mitteleuropa. Die Vorstandsmitglieder setzen sich ein für die Anerkennung und die Definition der Methode Ayurveda im Reglementierungsprozess der neuen Berufe „Komplementärtherapeut/in mit eidg. Diplom“ (www.oda-kt.ch) und „Naturheilpraktiker/in mit eidg. Diplom“ (www.oda-am.ch). Die Reglementierung ist dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Information (SBFI) unterstellt. 2015 haben beide Berufe die Reglementierung beendet, die Berufe haben das Vernehmlassungsverfahren bestanden und sind offiziell anerkannt worden. Im Bereich Ayurveda ist es der/die Komplementärtherapeut/in mit eidg. Diplom in Ayurveda-Therapie und der/die Naturheilpraktiker/in mit eidg. Diplom in Ayurveda-Medizin.

Im März 2012 wurde im Rahmen des neuen Instituts für Forschung und Lehre in Komplementärmedizin an der medizinischen Fakultät der Universität Lausanne der erste Einführungskurs in Ayurveda durchgeführt. Zielpublikum: Studenten der medizinischen Fakultät im 3. Ausbildungsjahr.